1. Ausgangssituation
Das Bundesministerium für Gesundheit hat in den Jahren 1992-96 das Forschungsprojekt „Personalbemessung im komplementären Bereich der psychiatrischen Versorgung“ gefördert. Der Abschlussbericht wurde im April 1999 veröffentlicht[1]. Die konzeptionellen Empfehlungen der Kommission „Personalbemessung“ haben breite Zustimmung gefunden. Hinsichtlich der Umsetzung bestehen jedoch Unklarheiten. Es fehlen Regionen mit Vorbildfunktion, in denen der personenbezogene Ansatz eingeführt wurde. In einem Implementationsprojekt soll die regionale Realisierung in einigen Referenzregionen begleitet, gefördert und der Fachöffentlichkeit auf den Ebenen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, der Leistungsanbieter und der Leistungsträger bekannt gemacht werden.
Die Ergebnisse sollen für die Weiterentwicklung des Sozialrechts aufgearbeitet und nutzbar gemacht werden.
2. Problemlage
Ziel der Psychiatriereform ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, dass auch schwer und chronisch psychisch kranke Menschen möglichst in ihrer eigenen Lebenswelt, also integriert in die Gemeinde, leben können, statt auf Dauer in einer Einrichtung institutionalisiert zu werden. Seit der Psychiatrie-Enquête ist viel erreicht, aber von der Verwirklichung des Prinzips ambulant vor stationär in den Bereichen Behandlung, Rehabilitation, Eingliederung und Pflege kann noch keine Rede sein.
Zur Ursachendefinition heißt es im „Diskussionspapier“ des „Arbeitskreises zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung unter Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit“ (Entwurf vom 30.3.1998). „Gleichwohl sind verbreitet Mängel in der psychiatrischen Versorgung zu konstatieren, deren Gründe in strukturellen Defiziten wie finanzierungsrechtlichen Unsicherheiten ebenso wie in der mangelnden Verantwortungsbereitschaft auf der Planungs-, Bereitstellungs- und Durchführungsebene zu suchen sind.“ Die Fortführung der Psychiatriereform ist daher nicht primär an quantitative (insbesondere finanzielle) Zuwächse gebunden, sondern von konzeptioneller Umgestaltung und intelligenter Steuerung abhängig, die finanziellen wie fachlichen Aspekten Rechnung trägt.
Der Expertenbericht der Kommission Personalbemessung im komplementären Bereich geht von dem Hilfebedarf von Personen aus und nicht von vorhandenen Einrichtungen und Finanzierungsformen. Die Kommission wollte nicht den Bedarf psychisch kranker Menschen dem entwickelten System von Einrichtungen und Finanzierungsformen anpassen, sondern umgekehrt. Im Kommissionsbericht wird deutlich herausgearbeitet, wie die entwickelten Versorgungsformen, insbesondere im komplementären Bereich, die Rehabilitation und Eingliederung von Personen behindern mit der Konsequenz der „institutionalisierten Verschwendung therapeutischer Ressourcen“ (Empfehlungen der Expertenkommission 1988).
3. Perspektiven der regionalen psychiatrischen Versorgung
Wenn man konsequent vom Hilfebedarf von Personen ausgeht, ergibt sich die Notwendigkeit des Umbaues des Versorgungssystems hin auf das Ziel personenzentrierter Hilfen (vgl. auch „Entwurf eines Diskussionspapiers...“ des BMG, Stand: 30.3.98). Dies ist ein längerer komplizierter Prozess, der auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben werden muss, zwischen denen Wechselwirkungen bestehen:
Zu: Arbeitsebene
Personenzentrierte psychiatrische Behandlung und Rehabilitation umfasst
Dies führt zu effektiver und effizienter Versorgung. Als Planungsinstrument hat sich der „Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan“ der Kommission Personalbemessung bewährt. Zur weiteren Verbreitung sind Einsatzhilfen zu erstellen (z.B. Fallbeispiele, Erläuterungen zu generell sinnvollen und regional oder institutionell variierbaren Bestandteilen, EDV-Fassung usw.). Mögliche Formen der einrichtungs- und leistungsbereichsübergreifenden Nutzung sind zu beschreiben, damit sie in der Folge regional verbindlich festgelegt werden können.
Im Hinblick auf Art, Umfang und Qualität der Maßnahmen sind Verfahren der Begutachtung in allen Leistungsbereichen fortzuentwickeln und teilweise neu zu schaffen. Die Begutachtung soll leistungsträgerübergreifend vereinheitlicht bzw. aufeinander abgestimmt werden. Mehrfachbegutachtungen von psychisch kranken Hilfesuchenden sind zu vermeiden.
Zu: Einrichtungsebene
Bei der Verzahnung der Hilfeleistungen spielt die gemeinsame Hilfeplanung und die Abstimmung im Verlauf eine zentrale Rolle. Allerdings müssen Einrichtungen und Träger auch die institutionellen Voraussetzungen schaffen, um individuelle Hilfebedarfe entsprechend bedienen zu können. Alle Leistungsanbieter für chronisch psychisch kranke Menschen sollen ambulante Komplexleistungen unter Einschluss von Soziotherapie ermöglichen. Ziel ist es, die im Kommissionsbericht formulierten Leistungsanforderungen an den Gemeindepsychiatrischen Verbund zu erfüllen.
Zu: Steurungsebene
Die Steuerung ist bisher fast nicht entwickelt. Sie erfolgt traditionell über die Planung von Betten/Plätzen in Einrichtungen nach bevölkerungsbezogenen Messziffern, statt nach Leistungen in bestimmten Funktionsbereichen (vgl. Verbundkonzept) in Verbindung mit budgetierten Entgelten und der Erfüllung von Qualitätsstandards. Die bisherige grobe Planungsmethode ist durch differenziertere Steuerungsprozesse, die die verschiedenen Ebenen miteinander verzahnen, abzulösen. Völlig in den Anfängen stecken die Entwicklung von steuerungsrelevanten Orientierungsdaten (Gesundheits- und Sozialberichterstattung) sowie die Entwicklung von Abstimmungsgremien zur Steuerung auf der Ebene von Kreisen und Städten sowie des Landes unter Einbeziehung der Leistungsträger und der Leistungserbringer.
Zu: Sozialrecht und Finanzierung
Es ist zu erwarten, dass im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 verbesserte Möglichkeiten zu ambulanter Rehabilitation als integrierter Komplexleistungen geschaffen werden. Dies würde die Notwendigkeit neuer Rahmenempfehlungen (z.B. Empfehlungsvereinbarung der Rehabilitationsträger) nach sich ziehen. Es ist notwendig, von Anfang an die Verzahnung mit anderen Leistungsbereichen (Krankenhausbehandlung, ambulante Behandlung, Eingliederungshilfe ...) sicherzustellen.
Im Bereich der Eingliederungshilfe sind durch die ab 1.1.99 in Kraft getretenen Änderungen der §§ 93ff BSHG verbesserte Chancen zur Anpassung der Hilfen an den individuellen Bedarf gegeben. Die bisher abgeschlossenen oder als Entwurf vorliegenden Rahmenverträge nach §93d BSHG auf Landesebene haben teilweise noch Übergangscharakter, teilweise sehen sie Sonderregelungen für chronisch psychisch kranke Menschen vor. Personenzentrierte Versorgungsformen sollen realisiert werden. Zur Steuerung der regionalen und leistungsträgerspezifischen Kostenauswirkungen, z.B. zur Vermeidung von unerwünschten Zuwächsen oder Verlagerungen der Belastung wegen veränderter Leistungszuständigkeiten (ambulant/örtlicher , (teil-)stationär/überörtlicher Träger der Sozialhilfe), sind neue Formen zu entwickeln und zu erproben, die die bisherige Steuerung über Platzzahlen in homogen finanzierten Einrichtungen ablösen (z.B. abgestufte Budgetregelungen, Aufnahmekonferenzen unter Beteiligung der Leistungsträger).
Die aus der Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation und der Eingliederungshilfe gewonnenen Erfahrungen sollen für die Gestaltung des SB IX nutzbar gemacht werden..
Die Beeinträchtigung der Realisierung personenzentrierter Hilfen durch das SB XI sowie das Heimgesetz soll konkret herausgearbeitet werden, um daraus Vorschläge an den Bundesgesetzgeber abzuleiten
4. Projektziele und Vorgehen
Die Kommission hat mit ihrem Projektbericht die fachlichen Voraussetzungen für diesen Umsteuerungsprozess geschaffen. Jetzt geht es um ein umsetzungsorientiertes Anschlussprojekt, das nach dem bench-marking-Ansatz konzipiert ist: Sich entwickelnde Regionen werden über externe Vergleiche darin gefördert, die jeweils besten Problemlösungen von anderen zu übernehmen und in Qualitätsmanagementprozessen (der Einrichtungen sowie der Region) umzusetzen. Gefördert werden soll die Vernetzung der regionalen Umsetzungen, nicht die Dienste in den Regionen.
Über ein Ausschreibungsverfahren mit festgelegten Anforderungskriterien werden drei Versorgungsregionen ausgewählt. Dabei sollen die Kommune, das Land, die wesentlichen Leistungserbringer und Leistungsträger einbezogen sein.
Im Rahmen des Projekts werden Implementationshilfen, (fortlaufende) Überprüfungen, Qualitätsimpulse nach dem bench-marking-Konzept und Darstellung der Schwierigkeiten bei der Umsetzung positiver Lösungsansätze zu folgenden Aspekten geleistet:
Die erste Projektphase (6 Monate) dient der Konkretisierung der Projektziele mit regional unterschiedlicher Akzentsetzung. Die Entscheidung, in welchen Regionen die weitere Implementation des personenzentrierten Ansatzes wissenschaftlich begleitet und ausgewertet wird, wird vom Ergebnis dieser Verhandlungen abhängig gemacht. Anschließend werden verbindliche Vereinbarungen über die Mitwirkung am Projekt mit den beteiligten Leistungsanbietern und Leistungsträgern geschlossen.
In der zweiten Projektphase (24 Monate) werden die regionalen Umgestaltungsprozesse durch Beratung gefördert, kontinuierlich ausgewertet und optimiert.
In der dritten Projektphase 12 Monate) werden Entscheidungen über die Fortsetzung der regionalen Zusammenarbeit herbeigeführt und die gewonnenen Erfahrungen zur Veröffentlichung zusammengefasst.
Ähnlich wie im Projekt „Personalbemessung“ soll eine Kernarbeitsgruppe gebildet werden, die von einer erweiterten Kommission beraten und begleitet wird. Multiprofessionelle Kompetenz und die Erfahrung aus verschiedenen Leistungsbereichen sollte berücksichtigt werden. In der Kommission sollen auch Experten aus den Referenzregionen sowie den Reihen der Leistungsträger vertreten sein.
Die Projektleitung hat Prof. Dr. Heinrich Kunze, die Projektkoordination Ulrich Krüger inne.
[1] Autorengruppe Kruckenberg P u.a., Von institutions- zu personenzentrierten Hilfen in der psychiatrischen Versorgung, Band 116/I der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1999
[2] Die sozialrechtlichen Aspekte des personenzentrierten Ansatzes wurden in einem gesonderten Projekt untersucht. Die Ergebnisse sind veröffentlicht in: Von institutions- zu personenzentrierten Hilfen in der psychiatrischen Versorgung, Band 2, Ambulante Komplexleistungen – Sozialrechtliche Voraussetzungen zur Realisierung personenzentrierter Hilfen in der psychiatrischen Versorgung, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit Band 116/II, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1999