zum Projekt 'Personalbemessung im komplementären Bereich psychiatrischer Versorgung'
1. Zielsetzung
Ausgehend von den „Empfehlungen der Expertenkommission ...“ (1988) gilt als Maßstab das Ziel, auch den Menschen mit längerfristigen, schweren psychischen Erkrankungen ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Lebensfeld zu ermöglichen. Die Kommission hat für den komplementären Bereich die dazu notwendigen Hilfen konzeptualisiert. Sie ist vom Bedarf der einzelnen Personen in ihrem Lebensfeld ausgegangen, statt von entwickelten Einrichtungstypen und den unterschiedlichen Kostenträger-Zuständigkeiten.
Unter Bezug auf das oben genannte Ziel soll die organisatorische Realisierung der Hilfen sowie die Leistungszuständigkeit sich nach dem Bedarf der Menschen richten, statt wie bisher überwiegend umgekehrt: Der Bedarf richtet sich nach vorhandenen Einrichtungen und ggf. vorhandener Kostenzuständigkeit. Das bedeutet einen Perspektiv- und Paradigmenwechsel
Dabei geht es um das Ziel, möglichst bedarfsgemäße und effiziente Hilfen, d. h. auch eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Leistungserbringung zu bewirken, um so die „strukturbedingte Verschwendung therapeutischer Ressourcen“ zu beenden, die in den „Empfehlungen der Expertenkommission ...“ (1988) angeprangert wurde. Die aufgewandten Ressourcen könnten sinnvoller eingesetzt werden, wenn die bisher einrichtungszentrierten Hilfen für chronisch psychisch kranke Menschen personenzentriert umgebaut werden. Es geht also nicht darum, neben das vorhandene unveränderte System weitere zusätzliche Hilfen aufzubauen, sondern das bestehende einrichtungszentrierte Hilfesystem schrittweise personenzentriert umzusteuern.
2. Warum der entwickelte Komplementärbereich Rehabilitation und Eingliederung behindert
Entgegen dem allgemein anerkannten Prinzip „ambulant vor stationär“ gilt in der Realität: „stationär vor ambulant“. Traditionell bedeutet ambulant wenig, stationär viel Hilfe. Wer mit wenig nicht auskommt, muss sich in das Bett einer Einrichtung legen, um viel Hilfe zu erhalten, auch wenn er oder sie eine Wohnung hat und mit Bezugspersonen zusammenlebt. Das führt oft, insbesondere wenn die benötigten Einrichtungen eine Reha-Kette bilden und die Einrichtungen wohnortfern liegen, um so eher zur Ausgliederung aus dem gewohnten Lebensfeld und zur Ausbürgerung aus der Heimatstadt bzw. dem Heimatkreis, je komplexer der Hilfebedarf ist. Die Eingliederung in eine Einrichtung macht abhängig von der Einrichtung. Die Stabilisierung bei fortbestehenden psychischen Störungen ist an das künstliche Lebensfeld in der Institution gebunden und nicht ins eigene Lebensfeld übertragbar.
3. Der personenzentrierte Ansatz
Die Kommission orientiert sich zum einen am bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell, das auch die Psych-PV zu Grunde gelegt hat. Zum anderen geht die Kommission von einem dynamischen statt einem statischen Begriff von Behinderung aus. Dieser Ansatz stützt sich auf das Konzept von Behinderung als Krankheitsfolge entsprechend dem Vorschlag der WHO (ICIDH).
Bei Menschen mit chronisch-rezidivierendem Krankheitsverlauf sind Veränderungen im Hilfebedarf die Regel. Deshalb muss die Hilfe so flexibel organisiert werden, dass Art und Umfang entsprechend dem veränderten Bedarf bei Kontinuität der therapeutischen Beziehungen verändert und die Person in ihrem Lebensfeld integriert bleiben kann.
Für den Erfolg von Behandlung, Rehabilitation und Eingliederung ist von ganz entscheidender Bedeutung die Berücksichtigung des menschlichen Grundbedürfnisses nach eigener Wohnung, dies ist die entscheidende Voraussetzung für soziale Verwurzelung, persönliche Identität und psychische Stabilität. Deshalb geht der Ansatz der Kommission aus vom Hilfebedarf einer Person in ihrer selbstgewählten Lebensform, also von der eigenen Wohnung als Fix- und Angelpunkt. Behandlung, Rehabilitation und Eingliederung muss dort stattfinden, wo ihre Ergebnisse langfristig genutzt werden sollen.
Der Ansatz der Kommission geht vom differenzierten Bedarf einer Person in ihrem Lebensfeld aus und rückt die Frage der Organisation der Hilfe und die Kostenzuständigkeit in die 2. und 3. Linie. Vorrang haben nichtpsychiatrische Leistungen und eigene Ressourcen. Die (ergänzenden) psychiatrischen Hilfen umfassen grundsätzlich folgende Leistungsbereiche:
Schwer und chronisch psychisch kranke Klienten benötigen in der Regel integrierte psychiatrische Behandlungs-, Rehabilitations- und Eingliederungsprogramme (Komplexleistungsprogramme)
4. Umsetzungsbereiche und -ebenen
a) Arbeitsebene
Die individuelle Hilfeplanung mit dem Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) spielt eine herausragende Rolle. Ziel ist die Erstellung eines Gesamtplanes, der alle notwendigen Hilfebereiche (ggf. kostenträgerübergreifend) umfasst. Erst wenn die Leistungen dem sich fortentwickelndem Bedarf gemäß eng verzahnt angeboten werden (unter weitgehender personeller und inhaltlicher Kontinuität), lassen sich Rehabilitationsergebnisse optimieren und Ressourcen effektiver nutzen.
Für die Realisierung des Komplexleistungsprogramms ist entscheidend: Zyklen von Zielbestimmung, Maßnahmeplanung und – durchführung (Inhalt, Zeitressourcen, Verantwortlichkeiten), Überprüfung der Zielerreichung – mit Verlaufs- und Leistungsdokumentation.
b) Organisatorische Ebene
Es soll nicht ein neues Versorgungssystem neben das bisherige gesetzt werden, sondern der vorhandene Komplementärbereich soll in Richtung auf das Konzept des Gemeindepsychiatrischen Verbundes umgesteuert werden. Für die in einem Kreis/einer Stadt lebenden chronisch psychisch kranken/behinderten Personen müssen grundsätzlich verfügbar sein (Versorgungsverpflichtung):
Auf der Grundlage der Differenzierung der Leistungsbereiche eines Komplexleistungsprogramms wird eine Gliederung der regionalen Versorgung in fünf Funktionsbereiche vorgeschlagen, unter Einbeziehung der stationären und teilstationären Krankenhausbehandlung.
Einrichtungsbetten zum Wohnen kommen hier nicht vor, denn die professionellen Hilfen sind von den Räumen abgekoppelt. Die Wohnformen sind von den Hilfeformen zu trennen.
c) Leistungsrechtliche Ebene
Das Konzept der ambulanten psychiatrischen Komplexleistung ist eine Herausforderung an die vorrangigen Leistungsträger, ihre bisher überwiegend praktizierte Verweigerungshaltung gegenüber chronisch psychisch Kranken zu überprüfen. Die Kommission hat dazu wichtige fachliche Grundlagen erarbeitet.
d) Steuerung von Leistungs- und Ressourcenentwicklung
Die Steuerung der Versorgung von schwer und chronisch psychisch kranken Menschen in einer Region muss drei übergreifende Entwicklungsziele anstreben:
Der Entwicklungsprozess des gemeindepsychiatrischen Verbundes erfordert daher das zyklische Ineinandergreifen von Informations-, Abstimmungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen. Es kommt darauf an, die Verhältnisse auf den Ebenen Organisation, Leistungsrecht und Steuerung so zu verändern, dass die Verwirklichung von personenzentrierten Hilfen (Arbeitsebene) gefördert und nicht mehr behindert wird.