Wir begrüßen, dass durch die neuere Rechtsprechung und Gesetzgebung die Voraussetzungen für Zwangsbehandlungen geregelt worden sind und dass die Notwendigkeit von Zwangsbehandlungen inzwischen kritischer reflektiert wird.
Wir möchten aber darauf aufmerksam machen, dass dadurch Probleme in der klinischen Praxis auftreten, für die bisher keine Lösung gefunden worden ist.
So haben mit der unklaren Frage der Zwangsbehandlungen bei Fremdgefährdung unserer Erfahrung nach die Vorfälle von Aggression und Gewalt gegen Mitpatienten und Personal in den Kliniken auch auf offenen Stationen stark zugenommen. Das liegt daran, dass Patienten in akuter Psychose, die keine Antipsychotika einnehmen, wesentlich länger in psychotischen Zuständen mit Selbst- und Fremdgefährdung bleiben.
Gerichte haben in den letzten Jahren vielfach zugestimmt, Patienten unterzubringen, die jede Behandlung ablehnen, ohne zugleich eine Zwangsbehandlung zu genehmigen. Dadurch sind heutzutage viele Patienten in Kliniken untergebracht, die entweder gar nicht oder zumindest nicht medikamentös behandelt werden dürfen. Auch wenn bei einigen dieser Patienten die Klinikatmosphäre und das gesamte therapeutische Setting wenigstens eine teilweise Besserung bewirken und zumindest die Gefahr von Selbstschädigung reduzieren können, und manche Patienten sich nach einer Weile von einer Behandlung überzeugen lassen, lehnen andere untergebrachte Patienten jede Behandlung, auch psychotherapeutische Behandlung, ab, und werden de facto nicht behandelt, sondern lediglich verwahrt. Das gilt gleichermaßen für Patienten, die nach dem Betreuungsgesetz wie nach den Landesgesetzen untergebracht worden sind.
Die Unterbringung einer zunehmenden Zahl von Patienten, die jede Behandlung oder zumindest die indizierte medikamentöse Behandlung rechtswirksam ablehnen, stellt die Kliniken vor erhebliche Probleme. Denn erstens müssen diese Patienten deutlich länger untergebracht werden, als es der Fall wäre, wenn sie medikamentös behandelt würden. Zweitens erfordern sie deutlich mehr Zeit des Personals, das bei Gewalt mehr Deeskalationsmaßnahmen, Isolierungen und Fixierungen durchführen muss. Dies ist in den gesetzlichen Vorgaben (PsychPV), die schon bald ersatzlos auslaufen (neues Entgeltsystem PEPP), nicht vorgesehen. Drittens ist die Sicherheit für die anderen Patienten gefährdet, und das therapeutische Klima leidet für alle Patienten, wenn die Atmosphäre von gewalttätigen Patienten bestimmt wird. Viertens fehlen in den meisten Kliniken räumliche Voraussetzungen, z. B. zusätzliche gesicherte Räume für die Isolierung akut selbst- oder fremdgefährdender Patienten, um mit dieser Situation angemessen umzugehen.
Durch die zunehmenden aggressiven und gefährlichen Übergriffe auf Personal haben viele Kliniken Schwierigkeiten, psychiatrische Pflegekräfte zu gewinnen oder zu halten. Die Kündigungen nehmen zu, da die Belastungen für viele Pflegekräfte untragbar geworden sind. Der Personalmangel nimmt dadurch weiter zu, was wiederum die Sicherung fremdgefährdender Patienten erschwert. Diese Entwicklung führt in einen Teufelskreis.
Darüber hinaus wird der Zweiklassenmedizin Vorschub geleistet. Wohlhabende Patienten und Privatpatienten meiden aufgrund der schwierigen Zustände in den öffentlichen psychiatrischen Kliniken diese zunehmend und lassen sich in (psychosomatischen) Privatkliniken behandeln. Durch die soziale Selektion der Patienten verschärfen sich die Probleme weiter.
Im Interesse der Patienten und des Personals sollte nicht nur die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen kritisch geprüft, sondern auch die Voraussetzungen für Deeskalation und offene Stationen (Personalbedarf!) müssten geprüft und ermöglicht werden.
Dies betrifft erstens den Personalschlüssel in den psychiatrischen Kliniken, zweitens die räumliche Ausstattung. Die Einführung des neuen Entgeltsystems PEPP ohne jegliche rechtliche Personalvorgaben droht die Problematik zu verschärfen.
Vor allem sind wir der Auffassung, dass Patienten, die jegliche psychiatrische Diagnose und Behandlung rechtswirksam ablehnen, nicht mehr in psychiatrischen Kliniken untergebracht werden sollten. Das sollte gleichermaßen für die Unterbringung nach Betreuungsrecht wie nach den Landesgesetzen gelten.
Es ist u.E. an der Zeit, einen offenen gesellschaftlichen und politischen Dialog über die Frage der Unterbringung selbst- und fremdgefährdender Menschen, die eine medizinische Behandlung rechtswirksam verweigern, zu führen.
Die vollständige Stellungnahme finden Sie rechts unter Dateien.