„Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung für psychisch Kranke – Entwicklung regionaler, integrierter und personenzentrierter Hilfesysteme“
1. Ausgangssituation
Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat in den Jahren 2000-2003 das Projekt „Bestandsaufnahme zur Rehabilitation psychisch Kranker“ gefördert. Wesentliche Zwischenergebnisse wurden bereits am 13. und 14. Mai 2002 bei der Tagung der Aktion Psychisch Kranke „Teilhabe am Arbeitsleben – Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen“ in Berlin vorgestellt.. Hier wie auch im vorliegenden Abschlussbericht wurde erheblicher Handlungsbedarfs festgestellt.
In einem Implementationsprojekt soll die regionale Realisierung in einigen Referenzregionen begleitet, durch wissenschaftliche Beratung gefördert und der Fachöffentlichkeit auf den Ebenen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, der Leistungsanbieter und der Leistungsträger bekannt gemacht werden.
Die Ergebnisse sollen auch für die Weiterentwicklung des Sozialrechts aufgearbeitet und nutzbar gemacht werden.
2. Problemlage
Die Arbeits- und Beschäftigungssituation von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen ist äußerst unbefriedigend. Dies belegen z. B. die Daten im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001), der Tagungsbericht 'Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen' der Aktion Psychisch Kranke (2002) und der Abschlussbericht des Projektes „Bestandaufnahme zur Rehabilitation psychisch Kranker“ (2003).
Gleichzeitig ist die Bedeutung von Arbeit und Beschäftigung für psychisch kranke Menschen unbestritten. Weit über den Einkommenserwerb hinaus stellt jedes Beschäftigungsverhältnis einen höchst wirksamen Integrationsfaktor dar, da darüber Kontakt, Zugehörigkeit, Tages- und Wochenstruktur und Aktivierung erreicht wird.
Es zeigen sich vor allem folgende Probleme:
- Die Beschäftigungssituation von psychisch beeinträchtigten Menschen ist besorgniserregend. Schwer und chronisch psychisch kranke Menschen sind fast völlig von der Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung ausgeschlossen.
- Im psychiatrischen Hilfesystem findet das Thema ‚Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung’ viel zu wenig Beachtung. Bei komplementären Diensten und Einrichtungen stehen Hilfen im Wohnbereich und zur Tagesgestaltung im Vordergrund.
- Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben für psychisch Kranke erfolgt ganz überwiegend in darauf spezialisierten Einrichtungen. Diese arbeiten unter festen mit den Leistungsträgern vereinbarten konzeptionellen Vorgaben weitgehend angebotsorientiert. Nach Abschluss der jeweiligen ‚Maßnahme’ verlieren sie die Zuständigkeit für den Klienten.
- Die Hilfeleistungen erfolgen fragmentiert in jeweiliger institutioneller Zuständigkeit. Einrichtungsübergreifende klientenbezogene Abstimmungen sind der persönlichen Initiative der Beteiligten überlassen.
- Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind derzeitig weithin einseitig auf (Wieder-)
Herstellung der vollen Erwerbsfähigkeit ausgerichtet. Soweit dieses Ziel (noch) nicht realistisch ist, verbleibt als Hilfsangebot ausschließlich die Werkstatt für behinderte Menschen.
- Es fehlen barrierefreie Arbeitsplätze für psychisch behinderte Menschen. Deren Anforderungen sind weitgehend unbekannt.
- Es fehlen ausreichende dauerhafte Fördermöglichkeiten für die Teilhabe am Arbeitsleben von leistungsgeminderten seelisch behinderten Menschen.
Selbst wenn die leistungsrechtliche Voraussetzungen für passgenaue Hilfen gegeben sind, werden diese oft nicht umgesetzt. Sozialrechtsreformen und konzeptionelle Fortentwicklungen (‚personenzentrierter Ansatz’) schaffen nun Bedingungen für strukturelle Weichenstellungen zur Optimierung der Hilfen zur Teilhabe für psychisch kranke Menschen am Arbeitsleben. Aktuell besteht ein erhebliches Interesse, Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben für psychisch kranke Menschen weiter zu entwickeln. Während es auf der Ebene einzelner Einrichtungen und Träger diverse positive Beispiele gibt, fehlen bisher regionale, am personenzentrierten Ansatz orientierte Verbundsysteme der Hilfe zur Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung für psychisch kranke Menschen.
3. Perspektiven der regionalen Organisation und Steuerung von Hilfen zu Arbeit und Beschäftigung für psychisch kranke Menschen
Der Schlüssel zur Effektivierung der Hilfen und Optimierung des Ressourceneinsatzes liegt in der Ermöglichung passgenauer und flexibler Hilfeleistung im Einzelfall, die abgestimmt bis zur Erreichung des individuellen Behandlungs- bzw. Rehabilitationsziels in therapeutischer und personeller Kontinuität erfolgen. Wenn man konsequent vom Hilfebedarf von Personen ausgeht, ergibt sich die Notwendigkeit des Umbaues des Versorgungssystems hin auf das Ziel personenzentrierter Hilfen [1]. Dies ist ein längerer, komplizierter Prozeß, der auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben werden muß, zwischen denen Wechselwirkungen bestehen:
a) Arbeitsebene: personen- statt einrichtungszentrierte Konzepte, Arbeitsformen, Gesamtplan (personenbezogen und Hilfe-Institutionen übergreifend),
b) Einrichtungsebene: Umorganisation der vorhandenen Einrichtungen, so dass sie im Rahmen eines gemeindepsychiatrischen Verbundes flexible und abgestimmte Hilfen zur Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung leisten,
c) Steuerungsebene: zunehmend aufeinander bezogene Informations-, Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse mit dem Ziel der Schwerpunktverlagerung von Hilfeleistungen in spezialisierten Einrichtungen zu Hilfen im allgemeinen Arbeitsleben,
d) Sozialrecht und Finanzierung: Komplexe Leistungen sind eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass auch schwer und chronisch psychisch kranke Personen auf Dauer zur Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung befähigt werden. Bestehende sozialrechtliche Ansprüche und Fördermöglichkeiten müssen personenbezogen gebündelt und wesentlich flexibilisiert werden.
4. Projektziele und Vorgehen
Im Rahmen eines Implementationsprojekts soll in vier bis sechs Regionen exemplarisch die Entwicklung von Verbünden zur Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben für psychisch kranke Menschen durch wissenschaftliche/fachliche Beratung, wechselseitigen Erfahrungsaustausch und Kompetenztransfer nach der Benchmarkingmethode gefördert werden. Diese regionalen Verbünde sollen als Referenzregionen auch anderen interessierten Verbünden den Auf- und Umbau von Hilfesysteme erleichtern, die zu langfristiger Teilhabe von Menschen mit psychischen Störungen am nicht geförderten und am geförderten Arbeitsmarkt beitragen.
Bei der Implementation von Konzepten und Handlungsstrategien zur Teilhabe psychisch kranker bzw. seelisch behinderter Menschen am Arbeitsleben stehen Fragen der Steuerung im Vordergrund auf der Ebene
a) des Einzelfalls
b) der Organisation von Hilfen im regionalen Hilfesystem (Verbund)
c) des Zusammenwirkens der Leistungsträger und der Leistungserbringer
mit dem Ziel der Qualitätsverbesserung durch
- konsequente Orientierung am individuellen Bedarf
- personenzentrierte Zusammenarbeit der Leistungserbringer
- Übernahme gemeinsamer Verantwortung und regionale Versorgungsverpflichtung
In dieser Zielsetzung geht es zugleich um die Evaluation der Vorgaben des SGB IX.
Dabei geht es
- nicht um die Schaffung neuer Einrichtungen und Dienste, sondern um die Optimierung der bestehenden Angebote durch Verzahnung, verbindliche Kooperation und übereinstimmende Ausrichtung an den Prinzipien personenzentrierter Hilfeleistung,
- nicht um die Förderung neuer oder zusätzlicher Angebote, sondern um die wissenschaftliche Beratung bei der Umsetzung bestehender sozialrechtlicher Ansprüche und Vorgaben der Qualitätssicherung,
- nicht um ein Forschungsprojekt zur Entwicklung neuer Konzeptionen, sondern um die Umsetzung vorliegender Konzeptionen (‚personenzentrierte Hilfen’) und Handlungsleitlinien,
- nicht um die befristete Erprobung neuer Formen der Hilfe unter Projektbedingungen, sondern um die Implementation von Qualitätsstandards und den Aufbau von Kooperationsstrukturen, die nach Projektabschluss nahtlos fortgeführt werden,
- nicht um den programmatischen Diskurs, sondern um verbindliche Vereinbarungen der Leistungserbringer untereinander und mit den Leistungsträgern zur Planung, Durchführung und Evaluation von Hilfen zur Teilhabe von psychisch kranken Menschen.
Es wird eine Kernarbeitsgruppe gebildet werden, die von einer erweiterten Kommission beraten und begleitet wird.
Die Projektleitung hat Dr. Niels Pörksen, die Projektkoordination Ulrich Krüger inne.
Die Mitglieder der steuernden Arbeitsgruppe sind:
· Dr. Niels Pörksen, Projektleiter
· Ulrich Krüger, Projektkoordinator
· Prof. Dr. Petra Gromann
· Jörg Holke
· Prof. Dr. Peter Kruckenberg
· Prof. Dr. Heinrich Kunze
· Matthias Rosemann
· Arnd Schwendy
· Prof. Dr. Ingmar Steinhart
· als hauptamtliche TAB-MitarbeiterInnen Manfred Becker und Jessica Odenwald
[1] Autorengruppe Kruckenberg P u.a., Von institutions- zu personenzentrierten Hilfen in der psychiatrischen Versorgung, Band 116/I der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1999